27.03.2023
 5 Minuten

Die Magie ultraflacher Automatikuhren

Von Jorg Weppelink
Audemars-Piguet-Royal-Oak-5402BA-2-1

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Wenn Sie heutzutage eine mechanische Uhr kaufen, wird diese höchstwahrscheinlich eine Automatikuhr sein, wohingegen in den 1950er- und 1960er-Jahren die Auswahl zwischen Handaufzug- oder Automatikuhr noch eine relevante Rolle spielte. Das veränderte sich allerdings mit der Quarzkrise in den 1970er-Jahren. Von da an lautete die Frage nicht mehr, ob Sie eine Handaufzugs- oder Automatikuhr möchten, sondern ob Sie eine mechanische oder eine Quarzuhr kaufen sollten, wenn sich die Frage überhaupt noch stellte. Wie wir wissen, gab die Quarzkrise sehr zum Leidwesen mechanischer Uhren – sowohl für Handaufzugs- als auch für Automatikuhren – den Startschuss für einen massiven Wandel in der Uhrenindustrie.

Aber wussten Sie auch, dass selbst während dieser prekären Zeit für die mechanische Uhrmacherei einige Marken beeindruckenden Erfolg mit mechanischen Uhren verzeichnen konnten? Eine Erfolgsgrundlage war das konstante Streben nach der Entwicklung noch flacherer Automatikuhren. Wenn Sie sich fragen, wie Automatikuhren funktionieren, empfehle ich Ihnen Tim Breinings tollen Artikel „Was ist eine Automatikuhr und wie funktioniert sie?“, in dem er die Grundlagen von Automatikuhren erläutert. Im Großen und Ganzen werden Automatikuhren durch die Armbewegungen des Trägers aufgezogen. Im Alltag des Trägers schwingt der Rotor der Uhr mit jeder Bewegung des Arms mit und zieht so die Zugfeder auf.

The rotor and the movement of the wrist is what keeps an automatic watch running.
Der Rotor und die Armbewegung der Träger halten die Automatikuhr am Laufen.

Der Rotor ist natürlich ein essenzielles Bauteil für Automatikuhren. Er braucht Raum, um sich bei den Armbewegungen des Trägers mitdrehen zu können. Luxusuhren sind mit Rotoren aus Materialien wie Wolfram, Gold oder Platin ausgestattet, sodass sie schwer genug sind, um sie in Bewegung zu versetzen und somit die Uhr aufzuziehen. Der Rotor, auch als Schwungmasse bezeichnet, ist somit essenziell für die Entwicklung flacherer Uhren. Anders gesagt: Es ist leichter, eine flache Handaufzugsuhr zu entwickeln, da sie keinen Rotor braucht und sich somit Platz im Gehäuse einsparen lässt.

Wer entwickelte das flachste Automatikwerk der Welt?

Das hat Uhrenmarken jedoch nicht davon abgehalten zu versuchen, Automatikuhren so flach wie nur irgend möglich zu machen. Wenn es eine mechanische Herausforderung gibt, werden die Unternehmen versuchen, dafür eine Lösung zu finden. Es gibt Marken, die sich im Laufe der Jahre besonders um die Entwicklung ultraflacher Uhren verdient gemacht haben. Im frühen 20. Jahrhundert standen Jaeger-LeCoultre, Vacheron Constantin und Audemars Piguet bei der Entwicklung ultraflacher Uhren im ständigen Wettkampf. Mitte der 1950er-Jahre reihte sich Piaget in diese Formation ein. Mit dem Beginn der Quarzkrise verlagerte sich dieser Wettstreit um die flachste Uhr jedoch in dieses Feld. 1979 brachte der Schweizer Hersteller Concord die Concord Delirium auf den Markt, die lediglich 1,98 mm dick war. Ihr Uhrwerk war eine wichtige Inspirationsquelle für die bahnbrechenden Swatch-Uhren, die 1983 auf den Markt kamen. Bei diesem Design fungierte der Gehäuseboden als Grundplatine für die Montage des Uhrwerks.

Während der Quarz-Vorherrschaft steckten einige Marken viel Energie in die Entwicklung ultraflacher mechanischer Uhrwerke. Jaeger-LeCoultre entwickelte das mittlerweile legendäre JLC-Kaliber 920 im Jahr 1967 für Audemars Piguet, Vacheron Constantin und Patek Philippe. Das Unternehmen lieferte den drei Uhrenmarken sein Uhrwerk als Ébauche-Uhrwerk. Das bedeutet, dass es als Bausatz geliefert wurde und nach Belieben von den Marken, die es einkauften, angepasst und dekoriert werden konnte – und dann wurde es erst richtig interessant.

Die Audemars Piguet Royal Oak 5402 mit dem Kaliber 2121 auch bekannt als JLCs Kaliber 920

Das JLC-Kaliber 920 war zum damaligen Zeitpunkt das flachste Automatikwerk mit Zentralrotor der Welt, aber Jaeger-LeCoultre verwendete es selbst nie für die eigenen Uhren. Audemars Piguet nutzte es als Grundwerk für das Kaliber 2120, das die erste Royal Oak Referenz 5402 aus dem Jahr 1972 antrieb. Patek Philippe verwendete das JLC-Uhrwerk für die Entwicklung des Kalibers 28-255 für die erste Nautilus im Jahr 1976 und Vacheron entwickelte daraus das Kaliber 1120 zum Antrieb der legendären 222 aus dem Jahr 1977.

Bahnbrechend: Jaeger-LeCoultres Kaliber 920

Dieses revolutionäre Uhrwerk diente also als Antrieb für drei der legendärsten modernen Sportuhren, die eine Revolution im Uhrendesign einleiteten, welche wiederum ursprünglich von Gérald Gentas Royal Oak ausging. Ein ultraflaches und verlässliches Automatikwerk war als Antrieb für diese Luxusuhren erforderlich, um Gentas Vision einer äußerst flachen automatischen Sportuhr wahr werden zu lassen. Genau deswegen war das Kaliber 920 (oder 2120 im AP-Universum) die perfekte Lösung. Das Uhrwerk war lediglich 2,45 mm dick und verfügte über einen Goldrotor in voller Größe. Das Uhrwerk ist nicht nur ein technisches Wunderwerk, sondern auch in Aktion einfach nur fantastisch. Die revolutionäre Architektur ist umwerfend, genau wie die Veredelung durch die drei genannten Marken, auch wenn durchsichtige Gehäuseböden damals noch nicht üblich waren. Es war eine Freude, dieses mechanische Wunder im Einsatz zu erleben; den Rotor in voller Größe auf der Berylliumschiene zu sehen, ist einfach wunderbar.

Über Jahre hinweg war das JLC-Kaliber 920 das flachste Automatikwerk mit Rotor in voller Größe, sodass die Frage blieb, wie baut man ein noch flacheres Uhrwerk? Die Antwort lag, Sie ahnten es bereits, im Rotor. Ein Uhrenrotor muss normalerweise auf ein Grundwerk aufgesetzt werden, wodurch eine Uhr höher wird. Es gibt aber auch die Möglichkeit, einen Rotor in das Uhrwerk zu integrieren. Hier kam der Mikrorotor ins Spiel. Der Mikrorotor wurde tatsächlich schon in den 1950er-Jahren entwickelt. Piaget griff für ihr bahnbrechendes 12P-Uhrwerk aus den 1960er-Jahren auf diese Lösung zurück. Mit 2,3 mm war dieses noch einmal 0,15 mm flacher als das Kaliber 920. Das mag nicht nach viel klingen, aber in der Uhrmacherei sind das Welten. Ganz nebenbei erwähnt, verwendet Piaget bis heute Mikrorotoren in ihren ultraflachen Kalibern.

Bvlgari und die Octo Finissimo-Serie

Die gleiche Technik setzte Bvlgari für ihre rekordverdächtige Serie Octo Finissimo ein. Diese startete 2014 mit dem flachsten Handaufzugs-Tourbillonwerk aller Zeiten in der Octo Finissimo Tourbillon und dem flachsten Handaufzugs-Minutrenrepetitionswerk in der Octo Finissimo Minute Repeater. 2017 jedoch wurden wir Zeugen der Markteinführung der Bvlgari Octo Finissimo Automatic, die mit ihrem neuen Uhrwerk auch neue Rekorde aufstellte. Die Uhr war lediglich 5,15 mm dick und das Kaliber darin, das BVL 138 mit Mikrorotor aus Platin, maß nur 2,23 mm. Im selben Jahr brach Piaget jedoch den Rekord für die flachste Automatikuhr erneut mit der 4,3 mm dicken Piaget Altiplano Ultimate Automatic.

The Bvlgari Octo Finissimo ref. 102105
The Bvlgari Octo Finissimo ref. 102105

2018, also nur ein Jahr später, schnappte sich Bvlgari die Krone zurück mit der Octo Finissimo Tourbillon Automatic. Diese wurde zur flachsten Automatikuhr und zur flachsten Uhr mit Tourbillon aller Zeiten. Im Gegensatz zu den anderen rekordbrechenden Modellen der Serie kam sie ohne Mikrorotor aus. Stattdessen kam ein sogenannter Peripherierotor zum Einsatz, also ein sehr schmaler Ring, der entlang der Peripherie des Uhrwerks rotiert. Es ist also möglich, den Rotor an der Außenseite des Uhrwerks zu integrieren und somit noch flachere Kaliber zu bauen. Die ersten Versuche mit Peripherierotoren gehen bis in die 1950er-Jahre zurück. Es war schließlich die Marke Carl F. Bucherer, welche die moderne Version 2009 mit seinem Kaliber CFB A1000 einführte. Seitdem inspirierte der Peripherierotor Marken wie Bvlgari, Vacheron Constantin, Breguet und Audemars Piguet, selbst ultraflache Uhrwerke mit dieser Technik zu entwickeln.

Zentralrotor, Mikrorotor und auch Peripherierotor beweisen eindeutig, dass die Weiterentwicklung der Uhrenindustrie nie aufhört. Die Suche nach neuen Möglichkeiten zur Entwicklung ultraflacher Uhren geht kontinuierlich weiter. Erst im letzten Jahr stellte Bvlgari die Octo Finissimo Ultra mit Handaufzug als flachste mechanische Uhr aller Zeiten vor. Kurz darauf wurde ihr dieser Titel vom aktuellen Titelträger, der Richard Mille RM UP-01 mit Handaufzug, wieder entrissen. Ich schätze, dass wir in den kommenden Jahren noch flachere Automatikuhren sehen werden, weil es schlussendlich nicht nur darum geht, Rekorde zu brechen, sondern auch darum, die magische Welt der mechanischen Uhren zu zelebrieren.


Über den Autor

Jorg Weppelink

Hallo, ich bin Jorg und schreibe seit 2016 Artikel für Chrono24. Meine Beziehung zu Chrono24 reicht jedoch deutlich weiter zurück, denn meine Liebe zu Uhren erwachte …

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