Dreizeiger-Automatikuhren sind die beliebtesten mechanischen Zeitmesser – und die Werke, die sie antreiben, zählen zu den erschwinglichsten, zuverlässigsten und verbreitetsten. Wer Wert auf hohe Fertigungstiefe und technische Individualität legt, sucht nach solchen Zeitmessern mit „Manufakturwerken“ oder „In-House Werken“.
Ohne auf die vieldiskutierten und selten einheitlichen Kriterien einzugehen, die ein solches Label rechtfertigen, kann man feststellen: Die Auswahl an erschwinglichen Uhren mit eigenständigen, noch wenig verbreiteten Automatikwerken hat nicht nur auf dem Papier zugenommen. Immer mehr Marken präsentieren ihr eigenes Kaliber und wagen den ersten Schritt meist mit klassischen Automatikwerken. So mancher Hersteller strebt dabei nicht nur die Eigenversorgung an, sondern will sich nebenbei auch als neuer Werkelieferant aufstrebender Uhrenmarken präsentieren. In diesem Artikel werden Sie erfahren, wie dieser Prozess bei zwei ganz unterschiedlichen Marken ausgesehen hat.
Tudor und Kenissi – Die Story
Die namentlich wenig bekannte Firma Kenissi ist untrennbar mit Tudor, der Schwestermarke von Rolex und deren Aufstieg verbunden. Welchen Anteil an diesem Erfolg die Einführung von In-House Werken durch Kenissi spielte und wie sehr die akute Rolex-Knappheit dazu beitrug, lässt sich schwer differenzieren. Fest steht jedoch, dass Tudor sehr erfolgreich am Markt agiert und sich immer stärker als echte Alternative und nicht mehr reine Ausweichlösung zur anvisierten Rolex positioniert.
Ein wichtiger Grundstein hierfür wurde mit der Präsentation der ersten eigenen Tudor-Kaliber im Jahr 2015 gelegt. Anders als Rolex setzte man bei der Schwestermarke bis dato auf bewährte Qualität von ETA – bis man sich entschied, eine eigene Werkefertigung aufzubauen. Dabei griff man nicht auf die bestehende Infrastruktur von Rolex in Biel, dem Rolex-Standort, der für die Fertigung von Uhrwerken verantwortlich ist, zurück. Ungewöhnlicherweise – so möchte man meinen – schuf man für die Versorgung der Marke Tudor ein rechtlich eigenständiges Unternehmen anstatt einer vertikal integrierten Manufaktur innerhalb der Marke Tudor. Wieso dieser Sonderweg, wenn gerade die hohe Fertigungstiefe einer der zentralen Werte des Vorbilds Rolex ist?
Wenn man sich dies fragt, sollte man sich ins Gedächtnis rufen, dass die heutige Firma Rolex SA erst seit 2004 besteht. Sie entstand, als die bis dato eigenständige Rolex Montres SA die Bieler Manufacture des Montres Rolex SA übernahm. Hinter Rolex in Biel verbarg sich der Uhrwerkshersteller Aegler, dessen Geschäftsbeziehung zum Rolex-Gründer bis in die 1910er-Jahre zurückreichen. Als exklusiver Uhrwerksproduzent für Rolex agierte man zwar unter dem Namen der Krone und praktisch als eine Einheit, befand sich aber im Besitz der Nachfahren der Gründerfamilie Aegler – anders als die bereits im Besitz der Hans-Wilsdorf-Stiftung befindliche Rolex Montres SA. Mit der Übernahme durch die Rolex Montres SA, der Schaffung der heutigen Rolex SA und mit weiteren strategischen Übernahmen von Zulieferern wurden die Weichen für die nahezu vollständige Vertikalisierung der Marke Rolex gestellt.
Zurück zu Tudor und Kenissi im Jahr 2022: Vor dem Hintergrund des anstehenden gemeinsamen Bezugs eines Neubaus in Le Locle, den sich Tudor und Kenissi räumlich teilen werden, scheint die Trennung der Firmen von der Stiftungsstruktur überflüssig. Wieso erneut separate Strukturen erlauben, wenn bei Rolex jahrelang die Fusion mit dem ohnehin exklusiven Uhrwerkslieferanten angestrebt wurde?
Die Antwort wird den meisten, die die Geschehnisse rund um Kenissi verfolgt haben, klar sein: Während Rolex seine Werkefertigungskapazitäten niemals einer externen Marke zur Verfügung stellen würde, ließ man sich bei Tudor kaum zwei Jahre Zeit, bis die neuen Werke einer Drittfirma zur Verfügung gestellt wurden. Und nicht nur das: Durch die von Tudor und Rolex beziehungsweise der Hans-Wilsdorf-Stiftung losgelösten Besitzstrukturen stand dem Einstieg externer Investoren nichts im Weg.
Nach dem Debüt eines Kenissi-Werks in der Breitling Superocean landeten diese auch bei Chanel, Norqain und zuletzt auch bei Fortis und TAG Heuer. Dabei fällt auf, dass man unabhängige Marken gleichermaßen beliefert wie Konkurrenten aus Großkonzernen. Die wohl engste Bindung zu Kenissi besiegelte Chanel durch den Erwerb eines Anteils von 20 % an Kenissi, was kurz nach dem Einstieg bei der Haute-Horlogerie-Marke F.P. Journe geschah. Ein anschaulicher Beleg für die Relevanz, die technologische Exklusivität bei Uhrwerken hat – egal, ob im mittleren Preisbereich oder bei High-End-Zeitmessern.
Kenissi – die Werke
Kenissi fertigt zwei Uhrwerksfamilien, die bei Tudor als MT56 und MT54 bekannt sind. Diese unterscheiden sich durch ihre Abmessungen, allen voran den Durchmesser, wobei die Werksfamilie MT56 Durchmesser von ca. 32 bis 34 mm abdeckt, während die MT54-Werke nur 26 mm messen.
Die erste Tudor-Uhr, die mit einem eigenen Werk versehen wurde, war die North Flag, in der das Werk MT5621 zu finden ist. Interessanterweise verfügte es über eine Gangreserveanzeige, welche beim chronologischen Nachfolger MT5612 entfällt. Mit der mittlerweile eingestellten North Flag verschwand das MT5621 auch aus dem Tudor-Katalog, während das MT5612 weiterhin die Drei-Zeiger-Modelle mit Datum antreibt – wozu die Black Bay in 41-mm-Ausführung zählt.
Die gefragte Black Bay Fifty-Eight mit ihren kompakteren Abmessungen wird hingegen vom ebenso kompakten Kaliber MT5402 mit drei Zeigern, aber ohne Datumsanzeige angetrieben. Varianten dieses platzsparenden Kalibers, das erstmals 2018, also drei Jahre nach dem MT5621, vorgestellt wurde, werden auch bei den kompakteren Modellen von Norqain und in der Chanel J12.1 eingesetzt. Dort verfügen sie zudem über eine Datumsanzeige und – besonders im Fall von Chanel – einen individuell gestalteten Rotor, der die Ähnlichkeit der Werke auf den ersten Blick verschleiert. Bei Tudor lässt sich das eher rudimentär veredelte Werk sowieso nur bei der Black Bay Fifty-Eight 18K betrachten, da es sich sonst hinter massiven Gehäuseböden versteckt. Der eher industrielle Look der Uhrwerke von Kenissi passt zum einen zum robusten Markenauftritt von Tudor, zum anderen distanziert man sich in Erscheinungsbild und Anmutung (vielleicht bewusst) von der höher positionierten Marke Rolex.
Diese optische Distanzierung zu Rolex ist hinsichtlich Markenpositionierung durchaus sinnvoll, denn technisch können die Werke von Kenissi beziehungsweise Tudor denen von Rolex weitgehend das Wasser reichen. Speziell in den ersten Jahren nach der Präsentation von Kenissis Werken waren zahlreiche Uhren von Tudor ihren Rolex-Äquivalenten sogar technisch überlegen. Der Grund: Für die Einführung der neuesten Werksgeneration mit zeitgemäßen Gangreserven ließ man sich bei Rolex großzügig Zeit.
Beide Werksfamilien von Kenissi kommen üblicherweise mit 70 Stunden Gangreserve aus einem Federhaus, Chronometer-Zertifikat, robuster Unruhbrücke und Siliziumspirale daher. Letzteres ist beim großen Bruder Rolex eher eine Seltenheit, obwohl die Marke an den ersten Patenten von Silizium-Hemmungen beteiligt war.
Oris – die Story
Die sympathische, eigenständige Marke aus Hölstein macht keinen Hehl daraus, dass sie Uhren auch bei externen Partnern montieren lassen und Komponenten sowie Werke von Spezialisten beziehen. Trotz fehlender Vertikalisierung der Fertigung im eigenen Haus wirbt Oris mit Manufakturwerken – was angesichts der Exklusivität und dem Bezug der Werke und deren Komponenten von zahlreichen Schweizer Zulieferern auch legitim ist, je nachdem, welche persönliche Definition von „Manufaktur“ man sich zurechtlegt. Dabei ist es schwer, harte Grenzen zu ziehen: Muss jede Komponente aus den eigenen Fertigungshallen stammen? Was ist mit Spiralfedern, Saphirgläsern, Lagersteinen? Spinnt man diesen Gedanken konsequent weiter, bleibt garantiert keine einzige Marke übrig, die als hundertprozentige „Manufaktur“ gelten kann. Aus diesem Grund ist mein völlig subjektiver Anspruch an eine „Manufakturwerk“, dass dieses eine gewisse technische Eigenständigkeit aufweist und nicht jeder Marke zur Verfügung steht.
Heute können wir nicht nur froh darüber sein, dass Oris wieder einzigartige Uhrwerke im Portfolio hat, sondern auch darüber, dass die Marke überhaupt noch in dieser Form existiert. Einstmals hatte Oris fast 1000 Mitarbeiter und fertigte sogar die Hemmungen ihrer Uhren selbst. Durch Quarzkrise und die folgende Aufnahme in die ASUAG (dem Vorläufer der heutigen Swatch Group) drohte die Marke in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden – wenn sie nicht durch ein Management Buy-out in die heute Oris SA überführt worden wäre. Man fand mit der roten Schwungmasse und Automatikwerken aus dem Hause ETA erfolgreich seinen Platz im wiedererstarkten Markt für mechanische Uhren. Von einer Rückkehr zur einstmaligen Größe und Fertigungstiefe der Marke konnte und kann nicht die Rede sein. Doch nach vielen erfolgreichen Jahren mit zugelieferten Kalibern nahm man sich des Themas an, wieder auf individuellere Technik zu setzen.
Einen ersten Schritt, oder vielmehr gewaltigen Sprung in diese Richtung, tätigte man mit der Vorstellung des Kalibers 110. Im Jahr 2014 zum 110. Geburtstag der Marke präsentiert, trumpfte das Handaufzugswerk mit einigen Superlativen auf und beendete die lange Ära von Oris als reinen ETA-Einschaler.
Anders als zahlreiche Marken, die vor dem drohenden Lieferstopp seitens ETA in Dimension und Funktion identische Automatikwerke entwickelten, startete man bei Oris ambitionierter mit einem Handaufzugswerk mit 10 Tagen Gangreserve. So manche technische Finesse wie asymmetrische Zahnräder, die bemerkenswerte Gangreserve und der beachtliche Durchmesser von 34 mm – wohlgemerkt ohne Datumsscheibe – sorgten für begeisterte Resonanz. Die mit den Ablegern dieses Werks bestückten Uhren schienen es am Markt jedoch nicht leicht gehabt zu haben: Vielleicht lag es an den großen Durchmessern jenseits der 43 mm, vielleicht auch an den für Oris-Verhältnisse hohen Preisen jenseits der 5.000-EUR-Grenze. Fakt ist, dass die Modelle fast allesamt aus dem Katalog von Oris verschwunden sind – um der wesentlich massentauglicheren Kalibergeneration 400 Platz zu machen.
Oris – das Kaliber 400
Vieles spricht dafür, dass man sich im Hause Oris nach dem sehr ambitionierten und technisch gelungenen, aber nicht für die breite Masse geeigneten 10-Tage Handaufzugswerk auf das Wesentliche besann: ein robustes Automatikwerk für die Kernkollektionen der Marke, ohne Schnickschnack und aufwendige Veredelungen, dafür mit umso mehr Nutzen für den Käufer.
Herausgekommen ist ein 30-mm-Automatikwerk mit 120 Stunden, also fünf Tagen, Gangreserve, hoher Magnetresistenz und einem Fokus auf Robustheit und Wartungsfreundlichkeit. Ähnliches verspricht auch jedwede Konkurrenz – wer wirbt schon gerne mit empfindlichen Werken. Aber Oris unterstreicht diesen Anspruch mit einem Service-Intervall von zehn Jahren und einer ebenso langen Garantie.
Möglich macht dies eine solide Konstruktion, die auf Effekthascherei und Superlative verzichtet und somit hohe Teilezahlen und unnötige Komplexität vermeidet. Die in Reihe geschalteten Federhäuser wirken wie ein einzelnes mit der doppelten Federlänge. Sie treiben Zahnräder mit optimierter Verzahnungsgeometrie an, wobei Oris auf möglichst geringe Drehmomente und somit Eingriffskräfte achtete.
Gespannt werden die Federn durch einen gleitgelagerten, einseitig aufziehenden Rotor, der heute selten ist, da ein beidseitiges Aufziehen per Wechselgetriebe doch technisch anspruchsvoller und effektiver anmutet. Tatsächlich teilen diese Auffassung nicht alle Hersteller: Selbst Patek Philippe oder Girard-Perregaux verbauen Werke, deren Schwungmasse nur in eine Richtung Aufzugsleistung bringt. Sofern dies genügt, um die Uhr im Alltag ausreichend aufzuziehen, spricht nichts gegen dieses Vorgehen.
Beim omnipräsenten ETA 2824-2 oder seinem Quasi-Klon, dem Sellita SW200-1, sind es die Wechselräder der Automatik, die zu den empfindlichsten Komponenten zählen. Oris hat beim Kaliber 400 ganz bewusst auf eine simple Konstruktion gesetzt, um die beworbenen langen Service-Intervalle und das Garantieversprechen auch halten zu können.
Dabei wurde nicht auf Notlösungen wie verringerte Unruhfrequenzen zurückgegriffen, was Abstriche bei der Präzision bedeutet hätte. Ein weiteres physikalisch bedingtes Problem, welches gerade bei Uhren mit hohen Gangreserven auftritt, ist das der nichtkonstanten Kraft, die das Federhaus an das Uhrwerk abgibt. Je größer die Gangreserve, desto größer ist im Allgemeinen die Spanne der auftretenden Kräfte, bei denen die Hemmung tadellos performen muss. Im Doppelfederhaus finden sich deshalb Federn aus einer Speziallegierung namens Bioflex, die vom Federspezialisten Générale Ressorts stammt und flache Drehmomentkurven ermöglicht. Hemmungsrad und Anker sind, wie bei heutigen Neuentwicklungen üblich, aus amagnetischem Silizium und reduzieren den Reglageaufwand.
All das zahlt sich aus, da das Kaliber 400 nicht nur innerhalb der Chronometernorm performt, sondern diese sogar übertrifft. Offiziell zertifiziert sind die Uhren zwar nicht, aber die Performance wird dem Käufer dennoch garantiert, was sich positiv auf den Preis der Uhren auswirkt.
Mit Preisen im Bereich rund um 3.000 EUR und dem Debüt im Bestseller Aquis unterstreicht man den Anspruch, diesmal ein Manufakturwerk für die breite Masse der Käufer zu präsentieren. Etwas futuristischer und gewagter ist die neue ProPilot X Calibre 400 mit Titangehäuse und -armband.
Wer sich wundert, ob Oris mit dem Kaliber auch den gewünschten kommerziellen Erfolg erzielen konnte: 2021 war das stärkste Geschäftsjahr seit der Gründung der Oris SA, und die produzierten Kaliber 400 konnten die Nachfrage laut Aussage von Oris nicht vollständig decken.